Inklusion passgenau gestalten – angeregte Diskussionen zum 4. Sozialkongress der Diakoniestiftung in Erfurt
Inklusion als zentrale gesellschaftliche Aufgabe bestimmte die Diskussionen beim 4. Kongress der Diakoniestiftung. Dieser hat am Mittwoch, 12. Juni, im Atrium der Stadtwerke Erfurt stattgefunden. Mit 390 Teilnehmern wurde ein Teilnehmerrekord aufgestellt. „Im vergangenen Jahr hatten wir in Schleiz etwa 220 Teilnehmer. Nun ist wohl wegen des Themas und auch wegen dem Austragungsort Erfurt eine noch größere Resonanz da“, sagte Susann Ludwig, die Assistentin der Geschäftsführung und Organisatorin nach dem Kongress.
Zum Auftakt gaben die Kongas, die Trommelgruppe der Werkstätten Christopherushof, eine herrliche Einstimmung auf das Thema des Tages. Regionalbischof Dr. Christian Stawenow hielt eine Andacht und danach folgte die herzliche Begrüßung von Dr. Klaus Scholtissek, dem Vorsitzenden der Geschäftsführung der Diakoniestiftung Weimar Bad Lobenstein gGmbH.
In einem Grußwort dankte Tamara Thierbach, Bürgermeisterin in Erfurt und Dezernentin für Soziales, Bildung und Kultur, für das Kongressthema. „Es ist in der Behindertenhilfe noch nicht alles gut, auch darüber müssen wir reden und das wollen wir hier tun“, sagte sie.
Dies wurde von Pfarrer Axel Kramme, dem stellv. Aufsichtsratsvorsitzenden und Rektor der Diakoniestiftung aufgegriffen. Zukunft bauen – was heißt das? fragte er zu Beginn seiner Ansprache. Er selbst gab viele Hinweise, die in eine gute Zukunft im Sinne der gesellschaftlichen Teilhabe für hilfebedürftige, alte, kranke, behinderte und benachteiligte Menschen führen.
Die konkrete Ansage, dass „wir dafür mehr Geld in die Hand nehmen müssen“, gab es dann zur großen Freude vieler Kongressteilnehmer von Thüringens Sozialministerin Heike Taubert. Sie war bereits zum dritten Mal die gefragte Hauptrednerin . „Wenn wir uns streiten, bringt das Bewegung, alles andere wird als schläfrig empfunden. Das wollen wir nicht, wir wollen vorankommen.“ Woher das Geld kommen könnte, wurde auch gesagt: aus Steuererhöhungen. Doch die kann das Sozialministerium nicht beschließen. Zentrale Themen ihrer Rede waren die Schul- und Hochschulbildung für behinderte Menschen, Schulbegleiter, Barrierefreiheit im Internet, persönliches Budget, die Integrierte Teilhabeplanung (= ITP) und die Aufgabe Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit zu geben auf dem ersten Arbeitsmarkt anzukommen oder sich zumindest in den Werkstatten weiterzuentwickeln. „Jeder muss sich auch heute noch fragen, wie gehen wir, wie gehe ich mit den Menschen um. Viele behinderte Menschen leben selbständig, arbeiten gut, wohnen selbstbestimmt und werden dennoch von einem großen Teil der Gesellschaft ignoriert. Es kommt auf die Bevölkerung und die Nachbarn an“, sagte Taubert weiter.
In der anschließenden Podiumsdiskussion war das Thema Arbeiten für Menschen mit Behinderung vorherrschend. Günther Richter, Landesgeschäftsführer des Bundesverbandes mittelständischer Wirtschaft, sagte, dass allein in Thüringen etwa 11 000 Menschen in WfbMs beschäftigt sind. Es müsse stets die Frage erlaubt sein, was ist möglich? Wer kann welche Aufgabe erfüllen? Das Recht auf Arbeit gilt auch für behinderte Menschen. Es sei eine wertvolle Leistung, wenn die Werkstätten Aufträge von der freien Wirtschaft bekommen und gut erfüllen. .
Dr. Wolfgang Teske, kaufmännischer Vorstand der Diakonie Mitteldeutschland, stellte die Frage Wo beginnt Behinderung? Welche Einstellung hat jeder einzelne dazu? Es müsse der Mut aufgebracht werden, den Menschen etwas zuzutrauen und die Möglichkeit gegeben sein, etwas auszuprobieren.
Peter Zaiß, Geschäftsführer der Stadtwerke Erfurt, berichtete von weitreichenden Aktivitäten der Stadtwerke, Menschen mit Handicaps im eigenen Haus reguläre Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Er verwies dann auf den Einsatz der Stadtwerke für barrierefreie Bahnsteige und ‚sprechende‘ Straßenbahnen.
Kay Senius, Chef der Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen der Bundesagentur für Arbeit, wies auf verschiedene Instrumente der Arbeitsmarktpolitik hin, besonders die „unterstützte Beschäftigung“, die noch viel zu wenig angenommen werde. . Er machte aber auch deutlich, dass die Integration von Menschen in Zukunft nicht leichter werde: „Die Arbeitswelt wird immer anspruchsvoller und dadurch wird es für behinderte Menschen schwieriger, dort eine Beschäftigung zu finden.“
In der Diskussion gab es zahlreiche, Anmerkungen und Fragen aus dem Publikum.
Als wegweisendes Thema stellte sich die Forderung heraus, die Durchlässigkeit von der Werkstatt in den Ersten Arbeitsmarkt und bei tatsächlichem Bedarf auch wieder zurück in die Werkstatt zu ermöglichen. Die aktuelle geltende Gesetzeslage verhindert die Rückkehr in eine Werkstatt und wirkt deshalb faktisch als Bremse für die Vermittlung in den Ersten Arbeitsmarkt. Herr Senius, Herr Dr. Teske und die anderen Podiumsteilnehmer waren sich einig, dazu eine bundesweite Initiative anzustoßen, hier zu einer neuen und sachgemäßen Durchlässigkeit zu kommen.
Ein zweites wichtiges Thema war die Wahrnehmung, dass wir alle noch erheblichen Nachholbedarf haben, auf dem Weg zu einer nichtausgrenzenden, einfachen und verständlichen Sprache.
Die Fachgespräche:
Altenhilfe
„Wege zu einer demenzfreundlichen Kommune“ war Thema im Bereich Altenhilfe. Ein Vortrag von Martin Polenz von der Arnsberger „Lern Werkstatt Demenz“ eröffnete das Fachgespräch. Er ging dort auf Rahmenbedingungen ein, die ein demenzfreundliches Umfeld schaffen können. Dazu gehört, die Information der Öffentlichkeit, die Angehörigenarbeit und ein gutes Netzwerk. In der anschließenden Diskussionsrunde, fragte Moderatorin Antje Sommer die Teilnehmer: „Was würden Sie tun, wenn der Arzt die Diagnose Demenz feststellt?“ Sowohl Dieter Bauhaus, der Vorstandsvorsitzende der Sparkasse Mittelthüringen, als auch Dr. Dirc Hübner, der Vorstand der BKK Thüringer Energieversorgung, und Martin Gebhardt, der Vorsitzende der Geschäftsbereichsleitung Altenhilfe der Diakoniestiftung, gaben in ihren Antworten Einblick in ihre Gedanken und Gefühle zum Thema Altwerden und Demenz. Dabei gab es wiederholt die Aussage, dass Menschen Angst haben, anderen zur Last zu fallen.
Es ergab sich eine rege Diskussion, bei der die anwesenden Pflegekräfte und Einrichtungsleiter intensiv mitredeten.
Eingliederungshilfe
Weniger Fach- und Sonderstellung schaffen, sondern im Sinne der betroffenen Menschen handeln, um ihre Lebenssituation zu verbessern! Dies war der Tenor von Prof. Dr. Bernd Halfar, Dekan der Fakultät Soziale Arbeit der Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er war für das Referat zum Thema „Inklusion passgenau gestalten“ eingeladen. Mit seinen Worten sprach er wohl vielen der Teilnehmenden aus der Seele.
In der anschließenden Diskussion, die von Frieder Weigmann, Pressesprecher der Diakonie Mitteldeutschland, moderiert wurde, nahmen zwei behinderte Menschen teil. Sie, aber auch andere, machten deutlich, dass Inklusion von beiden Seiten der Gesellschaft kommen muss und nicht für jede Person gleichermaßen umsetzbar ist. „Jeder Mensch muss so viel Hilfe bekommen, dass er ein glückliches Leben führen kann. Er muss selbst entscheiden können“, so die Vereinbarung am Ende des Gespräches.
Schulen
Inklusion darf nicht nur auf die Schulen reduziert werden, Inklusion muss überall stattfinden, doch in den Schulen wird das Thema vielfach konkret. Sollen und/oder können Kinder mit und ohne Behinderung im Gemeinsamen Unterricht in derselben Schule unterrichtet werden? Sind Förderschulen auch in Zukunft notwendig?
Das Fachgespräch zum Thema Schulen stand unter dem Titel „Zukunft(s)Schule: Politische und Pädagogische Herausforderungen“. Das anregerende mit vielen Praxisbesipielen ausgestaltete Referat zum Thema kam von Heliane Schnelle, die sich vor allem mit systemischer Therapie und Organisationsentwicklung beschäftigt. In der anschließenden Diskussion gab es klare Meinungen pro aber auch kontra Förderschulen. Elternvertreter, wie Yvonne Neubeck-Aslan, meldeten sich mit großem Lob für die Förderschulen und die einzelnen Lehrkräfte zu Wort. Auch Alexander Rathenow, der Vorsitzende des Landesverbandes Thüringen Lernen-Fördern- Pro Förderschulen, verteidigte die Förderschulen. Vor allem, weil dort die Experten arbeiten, die wissen, was für die jeweiligen Kinder am besten sei. In anderen Schulen sei dies nicht gewährleistet. Gudrun Dressel, Vorständin des Diakonievereins Carolinenfield e.V. kritisierte, dass nun die Ausbildung für Sonderpädagogische Fachkräfte in Thüringen gänzlich ausgesetzt ist und damit kein Lehrkräfte-Nachwuchs für die Schulen käme. Prof. Dr. Ernst Hany, Direktor des Lehrerbildungszentrums der Erfurt School of Education, stellte insbesondere die Möglichkeiten seines Instituts zur Ausbildung für die angehenden Lehrer gerade im Bereich Inklusion vor. Rolf Busch, Vorsitzender des Thüringer Lehrerverbandes, stellt insbesondere die Wahlfreiheit der Eltern in den Vordergrund und kritisierte den bevormundenden Politikstil des zuständigen Ministeriums. Dr. Meffert von der Evangelischen Schulstiftung und Dr. Scholtissek erneuerten ihre Kritik an der der systematischen Ungleichbehandlung von Schulen in freier Trägerschaft gegenüber Schulen in staatlicher Trägerschaft.
Kinder/Jugend/Familien
Eine äußerst lebhafte Diskussion erlebten die Teilnehmer des Fachgesprächs „Inklusion als Haltung, aus der Handlungen entstehen“. Der Reformpädagoge Otto Herz führte zum Thema hin und ermöglichte den Teilnehmern einen völlig neuen Blick auch die Inklusion. Im Fokus waren dabei die Kindertagesstätten und ihr Umgang mit Kindern mit Förderbedarf. Sollte der Begriff „Behinderte“ überhaupt verwendet werden? Arbeitet nicht jeder Kindergarten inklusiv? Denn jeder Junge, jedes Mädchen ist irgendwie anders, besonders. „Wir haben eine wunderbare Veranstaltung erlebt. Die Teilnehmer haben auf heitere Weise dieses ernsthafte Thema bearbeitet und hoffentlich neu überdacht“, sagte Marlies Köhler von der Geschäftsbereichsleitung Kinder/Jugend/Familien der Diakoniestiftung.
Text / Fotos: Sandra Smailes